Dea Loher: “Magazin des Glücks“ | Schauspielhaus Zürich, Kammer

Dea Loher: “Magazin des Glücks“ | Schauspielhaus Zürich, Kammer

“Glück ist anders“, so könnte man den Inhalt der beiden Kurzgeschichten von Dea Loher auch umschreiben, die an diesem Sommerabend in der Kammer des Schauspielhauses zur Aufführung kamen. Gewaltig und intensiv ist die Inszenierung geraten – nichts für Zartbesaitete.

“Magazin des Glücks“ sind sieben kurze Texte von Dea Loher, die für das Hamburger Thalia-Theater in der Theaterspielzeit 2000/2001 von Andreas Kriegenburg inszeniert wurden. Es waren Lehrstücke für die Schauspielenden, probiert werden sollten extreme Spiel-(und Schreib-)weisen. Die “Berliner Geschichte“ und “Die Schere“ gehören zwar nicht in diese Reihe von dramatischen Kurztexten, handeln deswegen aber nicht von “glücklicheren“ Menschen.

Geschichten, die das Leben schreibt
“Welche Farbe hat Macht?“, “Schwimmt Milky Way wirklich in Milch?“, “Macht mich meine Verlegenheit verlegen?“, “Kann man Spielen verlernen?“, “Kann künstliche Intelligenz träumen“? – Mit einem Fragenkatalog eröffnet das Spiel der drei Schauspieler Fritz Fenne, Sarah Hostettler und Milian Zerzawy – sie versuchen, fragend die Welt zu erkunden. Ja, verstehen wir denn die Welt, in der wir leben? “Von Verstehen war hier nie die Rede“, lautet die Antwort. An der schrägen, mit Zeitungspapier ausgeklebten und schmutzigschwarz übermalten Wand winden sich die Schauspieler, wenn sie vom Unglück sprechen, das in ihren Monologen steckt (von Milian Zerzawy musikalisch begleitet). Aber nicht alle Geschichten, die sich im Leben ereignen, druckt eine Zeitung inklusive deren tragischem Hintergrund ab. Man liesst höchstens: “Dreizehn illegale Nordafrikaner verhaftet“ oder “Neunjähriges Kind ersticht sich selbst“.

Ein Unglück kommt selten allein
Der Lärm der Grossstadt Berlin trieb schon Franz Biberkopf in Alfred Döblins Roman “Berlin Alexanderplatz“ um, an den sich Dea Lohers Kurzgeschichte “Berliner Geschichte“ anlehnt. In Lohers Kurzgeschichte kommt ein junger, zunehmend verwirrter und verzweifelt aggressiver, Mann zu Wort, dem der steigende Lärm der Grossstadt zusetzt und der in einer dunklen Erdgeschosswohnung wohnt, von wo er schon längst weg in eine höhere Etage ziehen will (gespielt von Fritz Fenne). Doch Einziehen tun erst Isländer, “diese schwefelstinkenden Eiszombies“, dann Afrikaner, die seine jeden Sonntag im Hof gehaltene Predigt durch eine Radiomesse übertönen und dazu beten. Dass sie auch tagtäglich kochen, wird ihnen schliesslich zum Verhängnis. Die alte Mitbewohnerin im 4. Stock, deren Kind im Krieg verhungerte, zeigt sie an. Dreizehn illegale Afrikaner werden verhaftet. Die Verzweiflung des jungen Mannes entlässt sich allerdings auch nicht mit dem Besitz einer Gaspistole. “Niemand weiss, wie es in ihm aussieht. Niemand“, spricht er zum Schluss.

Das zweite Unglück: Geschichte einer Stimme
“Die Schere“ ist der Monolog einer Stimme (Sarah Hostettler), deren Unglück die Menschen sprachlos macht. Ein arbeitsloser Vater, der von Freitagmorgen 7 Uhr an trinkt, weil er sonst den stummen Fragen am Wochenende nicht ausweichen kann. Eine Mutter, die arbeiten geht. Ein Kind, das glaubt, es sei allein auf der Welt. Es war nicht immer so, würde aber wohl so bleiben. So kommt das Kind zum Schluss, die Auslöschung des Gehirns sei die Lösung des Problems, weil es in Gefühlsdingen nicht rational entscheiden kann. Das Kind sticht sich mit der Schere durchs Auge ins Gehirn und stirbt.

Der No-“Futuresong“
“Von Verstehen war hier nie die Rede.“ Dem Unglück auszuweichen, ist oft schwer. Unverständlicherweise fühlen wir uns ihm verhaftet, ja, glauben, es so verdient zu haben, nichts dagegen tun zu können. Man steckt im Hamsterrad drin und kommt nicht mehr raus, spielt Varianten des Entkommens durch und bleibt doch drin. Diese beiden eindrücklich gespielten Texte lassen uns zum Schluss erleichtert aufatmen, dass es uns nicht so ergangen ist wie diesen Figuren. Es hört sich jetzt aber zu banal an, von “Katharsis“ zu sprechen. “Who knows where we go to when we die“ fragt der Refrain des Futuresongs, der den Abend mit einlullend melancholischer Melodie eröffnet. “Who knows?“

 

Besprechung der Premiere vom 2. Juni 2012.
Dauer: ca. eine Stunde, ohne Pause.
Weitere Aufführungen am 5., 6., 16., 19., 20., 23. und 28. Juni 2012.

Besetzung
Fritz Fenne, Sarah Hostettler, Milian Zerzawy

Regie: Nina Mattenklotz
Bühne und Kostüme: Lena Hiebel
Musik: Tobias Gronau
Licht: Daniel Leuenberger
Dramaturgie: Meike Sasse
Regieassistenz: René Hofstetter

Im Netz
www.schauspielhaus.ch

www.nahaufnahmen.ch
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